Ich bin ziemlich sicher, dass jeder das Gefühl von Frustration kennt. Das überkommt uns nämlich meist dann, wenn etwas nicht so läuft, wie wir uns das vielleicht vorgestellt haben. Frust ist nicht unbedingt angenehm, aber wir wissen in der Regel auch, dass er vorbeigeht. Ähnlich verhält es sich mit Wut. Wer war noch nicht wütend? Ich würde sagen, Wut folgt auf Frust. Sie entsteht automatisch, wenn wir lange genug das Gefühl der Frustration mit uns herumtragen. Sind wir nun nicht in der Lage, mit der Wut umzugehen, ist es mit der Aggressivität nicht mehr weit her. Diese wird laut Wikipedia in der Verhaltensforschung als innere Bereitschaft verstanden, aggressives Verhalten gegen andere auszuführen. Was also mit Frust beginnt, kann am Ende zu Wutausbrüchen und Aggressionen führen, mit denen man nicht nur sich selbst, sondern auch anderen schadet.
Wenn nun aber jeder das Gefühl von Frust kennt, wie kommt es, dass nicht jeder in destruktives und aggressives Verhalten verfällt? Glauben wir Mencken, steckt der Impuls zumindest in jedem von uns. Wie unterscheidet sich also der Großteil der Menschen, die ihre „Wut“ im Griff haben von denen, die „wild um sich schlagen“? Bis zu welchem Ausmaß können wir von „normaler Wut“ sprechen, und wo beginnt die „Störung“?
In der ICD-10, der internationalen Klassifikation sämtlicher Krankheiten und Störungen, finden wir im Kapitel V unter F 6 die Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Unter F 63 werden schließlich abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle klassifiziert. Diese Verhaltensstörungen „sind durch wiederholte Handlungen ohne vernünftige Motivation gekennzeichnet, die nicht kontrolliert werden können und die meist die Interessen des betroffenen Patienten oder anderer Menschen schädigen. Der betroffene Patient berichtet von impulshaftem Verhalten.“ Dort, wo der Großteil der Menschen in der Lage ist einen aggressiven Gedanken, zum Beispiel etwas kaputt zu schlagen von der tatsächlichen Handlung trennen kann, weil er weiß, dass es vernünftig ist, die Wohnung nicht in Schutt und Asche zu legen, kann jemand, der an einer Impulskontrollstörung leidet, genau dieses Verhalten im Ernstfall nicht „vernünftig“ steuern. Neben pathologischer Brandstiftung, Haarerupfen und Kleptomanie werden unter F 63 auch diese aggressiven Ausbrüche eingeordnet, sollten sie nicht Teil einer anderen Störung, z.B. der dissozialen Persönlichkeitsstörung zugeordnet werden können. Eine Störung der Impulskontrolle bedeutet also nicht immer aggressives Verhalten, und aggressives Verhalten bedeutet nicht immer eine Impulskontrollstörung.
Menschen, deren aggressives Verhalten auf eine Impulskontrollstörung zurückzuführen ist, wissen durchaus um ihr „inadäquates“ Verhalten und fühlen sich im Nachhinein oft schuldig – was z.B. bei der Persönlichkeitsstörung nicht der Fall ist. Der „Vorteil“, der darin besteht ist, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Aggressivität im Rahmen einer Impulskontrollstörung zu „behandeln“. Da wäre zum Beispiel die Verhaltenstherapie. Hierbei lernt der Betroffene unter anderem erste Anzeichen von Frust, Wut oder Aggressivität frühzeitig zu erkennen. Im nächsten Schritt geht es dann darum, alternative Verhaltensmuster zu erlernen, um mit diesen Gefühlen anders umzugehen und ihnen einen anderen Ausdruck zu ermöglichen. Wie so oft haben auch hier unterschiedliche Therapeuten unterschiedliche Herangehensweisen und jeder muss für sich die passende finden.
Ich halte es für sinnvoll, neben der Verhaltensoptimierung die Ursache zu erkennen und dort eine Lösung zu ermöglichen, denn das Verhalten ist nur das Endergebnis. Es ist sicher hilfreich, Wut zu kontrollieren zu können und sie nicht jedes Mal in einem emotionalen Ausbruch von Aggressivität zu entladen. Wird die Ursache jedoch nicht beachtet, bleibt die Wut – und damit das Bedürfnis, sie auszuagieren. Die Ursachen sind so individuell, wie die Menschen selbst. Es könnten bestimmte Kindheitserfahrungen sein, Enttäuschungen, zwischenmenschliche Konflikte… Wut am Ende ist jedoch nichts anderes, als ein Gefühl mit einer bestimmten Energie. Wir haben nur gelernt, dass dieses Gefühl etwas negatives ist. Jeder kennt vermutlich Aussagen wie „Reiß dich zusammen“, „Steiger dich da nicht so rein“, „Beruhige dich“… Alles Aussagen die uns suggerieren, dass es unangemessen ist, frustriert oder wütend zu sein. Wir lernen also weniger, damit umzugehen als vielmehr, es zu unterdrücken, herunterzuschlucken, zu ignorieren. Dass das Fass irgendwann voll ist, ist eine logische Konsequenz. Und an dieser Stelle spielt das, was wir in diesem Zusammenhang gelernt haben wieder ein wichtige Rolle, wenn es darum geht, was passiert, wenn das Fass voll ist.
Der erste Schritt zum Umgang mit Frust, Wut oder Aggressivität ist meiner Meinung nach also erst einmal die Akzeptanz dessen, dass es sich hierbei um „normale“ Gefühle handelt, die jeder Mensch hat. Und die wichtig sind. Denn richtig kanalisiert sind es Energien, die uns voranbringen, die persönlichen Fortschritt ermöglichen, die uns antreiben, uns zu verbessern und über uns hinauszuwachsen. Übrigens genauso, wie die Angst, die ja ebenfalls zu den eher unbeliebten Gefühlen zählt. Aber das steht in einem anderen Artikel.
Gefühle, positive wie vermeintlich negative haben eine wichtige Funktion für uns. Sie kommen, sind da – und gehen auch wieder. Wenn man sie lässt. Und das zu lernen ist einer der wichtigsten Schritte in der Arbeit mit Impulskontrollstörungen. Und wenn man das verstanden hat, dann kann man alternative Verhaltensweisen ausprobieren und wird feststellen, dass es genau die ungeliebten Gefühle waren, die einem dazu verholfen haben, sich persönlich weiterzuentwickeln.