„Für Psychiater scheint die Devise zu gelten: „Niemand ist normal, man ist höchstens schlecht durchuntersucht.“ Man wirft ihnen vor, dass sie nonkonformistisches Verhalten oder ungewöhnliche Lebensentwürfe leichtfertig zu einem psychopathologischen Phänomen erklären.
Aber ist nicht das sogenannte normale Verhalten total verrückt?
Wenn man im Fernsehen sieht, wie schrille Figuren in Nachmittagstalkshows ein Gebaren hinlegen, das hundert Punkte auf dem Bizarrometer verdient, um ein Millionenpublikum mittels „Fremdschämen“ zu unterhalten, ist das normal.
Wenn ein Fußballspieler mehr verdient als tausend Universitätsprofessoren, wird das als normgerecht angesehen.
Wenn die Klingeltongeneration jährlich ein Milliarde Euro für ein zweifelhaftes Vergnügen ausgibt, ist das nicht abnorm.
Wenn It-Girls zu Stilikonen gemacht werden, ist das nicht verrückt.
Wenn Frauen, bei denen alles, was schön ist, angeklebt oder aus Silikon geformt ist, allein deshalb berühmt werden, gehört das nicht in den Bereich des Wahnsinns.
Wenn die Massen Politikern wie Hitler zujubeln, die sie ins Verderben stürzen, ist das (erst einmal) normal. Zur Norm rechnen sich auch Religionsgemeinschaften, die glauben, dass nur sie in den Himmel kommen und alle anderen nicht.
Wie gesund ist eigentlich normal?
Sollten die Psychiater nicht einmal versuchen, dieses Normverhalten zu behandeln? „Normal ist leichter Schwachsinn“, formulierte einst der Psychiater Karl Wilmanns (1873-1945) in Hinblick auf die Intelligenz. Wir müssen uns davon lösen, Menschen in psychisch Kranke und Normale einzuteilen.
Wenn jemand eine schwere Herzerkrankung hat, gilt er dennoch als normal. Nicht normal ist es dagegen, ein seelisches Leiden zu haben. Wir müssen uns von der Meinung trennen, dass eine psychiatrische Krankheit etwas Anstößiges oder Peinliches ist und dass sie in den meisten Fällen auch noch selbstverschuldet ist.
Das kann man am besten dadurch erreichen, indem man offen über psychische Krankheiten spricht. In den USA gibt es Prominente, die sich in Werbekampagnen von Selbsthilfegruppen als psychisch Kranke offenbaren und somit zur Entstigmatisierung dieser Erkrnakungen beitragen.
Bei uns dagegen wird sogar dann, wenn ein Prominenter offensichtlich psychisch krank ist, versucht, sein Verhalten als eine weite Auslegung von normal zu interpretieren, anstatt ehrlich zu sagen, dass er ein seelisches Problem hat. Unsere Helden dürfen nicht an Depressionen, Sucht oder Borderline-Störungen leiden.“
Diesen Text habe ich aus dem Buch „Wenn die Seele leidet – Handbuch der psychischen Erkrankungen“ von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Borwin Bandelow entnommen. Er gewährt mit seinem Buch einen interessanten Einblick in die bekanntesten psychischen Erkrankungen, zeigt diverse Therapieansätze auf und setzt nicht mit alternativen Behandlungsmethoden auseinander.
Er macht deutlich, dass psychische Erkrankungen jeden im Laufe des Lebens treffen können – und dass es viele Möglichkeiten gibt, damit umzugehen. Ein sehr lesenswertes Buch – nicht nur für Fachleute sondern für alle Menschen, die sich näher mit dem Thema auseinandersetzen möchten.