Diagnosen – ein Für und Wider

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Die Diagnostik spielt nicht nur bei der Behandlung körperlicher Beschwerden und Krankheiten, sondern auch im psychotherapeutischen Rahmen eine wichtige Rolle. Da jede Medaille jedoch zwei Seiten hat, halte ich es für sinnvoll, auch die Kehrseite zu beleuchten.

Der diagnostische Prozess ist der Beginn jeder Behandlung. Eine ausführliche Befunderhebung und Anamnese hilft, Beschwerden einzugrenzen, Zusammenhänge zu erschließen und wichtige Informationen für die anschließende Behandlung zu sammeln. Auch während der Behandlung wird die Diagnostik kontinuierlich fortgeführt. Auf diesen Prozess möchte ich hier und jetzt nicht weiter eingehen. Am Ende der Diagnostik steht jedoch für gewöhnlich eine Diagnose. Und diese möchte ich gern näher betrachten.

Meine Betrachtungsweise bezieht sich natürlich hauptsächlich auf den psychotherapeutischen Kontext. Fragt man Wikipedia, bekommt man folgende Definition: „Eine Diagnose entsteht durch die zusammenfassende Gesamtschau und Beurteilung der erhobenen Befunde. Dabei kann es sich beispielsweise um Beschwerden, Krankheitszeichen (Symptome) oder typischen Symptomkombinationen (Syndrom) handeln. Auch Normalbefunde oder nicht krankhafte Normabweichungen können zur Diagnosestellung beitragen. Diese Befunde werden durch die Anamnese, durch eine körperliche Untersuchung oder durch chemische oder apparative Untersuchungen erhoben. Die Diagnose ist entscheidend für die weitere Vorgehensweise bei der Behandlung.

„Soweit so gut.“

Eine Diagnose am Ende hat einige Vorteile. Für Betroffene ist es gut zu wissen, dass die Beschwerden, unter denen sie leiden, einen Namen haben. Gerade wenn die Psyche betroffen ist, ist es gut zu wissen, dass es für die Symptome eine Erklärung gibt. Das beruhigt und schafft vorerst Sicherheit. Eine Diagnose vermittelt den Eindruck, dass man nicht der Einzige ist, dass es Menschen gibt, die dasselbe „Schicksal“ teilen. Gleichzeitig bedeutet das natürlich auch, dass es Möglichkeiten geben muss, die Beschwerden und Symptome zu lösen, bzw. zu heilen. Das macht Mut und ermöglicht Zuversicht. Diagnosen helfen auch dem behandelnden Arzt oder Therapeuten, eine geeignete Therapie zusammenzustellen, in welcher Form auch immer. So kann man sicher gehen, dass man auch mit den Methoden behandelt wird, die sich bei dem jeweiligen Problem als wirksam erwiesen haben und daher besonders erfolgversprechend sind.

Wie man sieht, ist es wichtig und richtig, zu Beginn und während des Behandlungsprozesses Diagnosen zu stellen und zu verfolgen. Kommen wir nun zur Kehrseite. Diagnosen werden von Menschen vorgenommen. Da Menschen nicht allwissend, keine Maschinen und auch nicht perfekt sind, kann es zu Fehleinschätzungen und demzufolge zu Fehldiagnosen kommen. Das kommt vor und ist sicher kein Geheimnis. Kein Arzt, kein Therapeut und auch kein Heilpraktiker (mich selbstverständlich eingeschlossen)  kann alles und zu jeder Zeit wissen. Sie handeln zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen.

Der menschliche Körper und vor allem die menschliche Psyche sind jedoch viel zu komplex, als dass beide wirklich immer ganzheitlich erfasst werden können. Trotz des enormen Fortschrittes unserer modernen Medizin liegen noch immer viele körperliche und psychische Vorgänge außerhalb unseres Fassungsvermögens. Eine Diagnose kann zur Fixierung auf das Problem führen. Es wächst, worauf der Fokus liegt – das ist allgemein bekannt. Und wenn man sich fortwährend mit Krankheitsdiagnosen und psychischen Problemen beschäftigt, fällt es schwer, lösungsorientiert zu denken.

Die größte Herausforderung, die ich sehe, ist aber dass Patienten im allgemeinen Behandlungsprozess nach Diagnosestellung dann auch als Diagnose behandelt werden – und nicht mehr als Mensch. Das ist gerade bei der Behandlung von psychischen Leiden schwierig. Ein nicht unbeachtlicher Teil meiner Patienten kommt bereits mit Klinik- oder ambulanten Therapieerfahrungen zu mir – demzufolge auch mit entsprechenden Diagnosen, nur eben ohne Behandlungserfolg. Eine Ursache hierfür vermute ich in einer einseitigen Betrachtung des Patienten. Nämlich durch die „Diagnose-Brille“.

Nun gehört zur Diagnose A vielleicht das Behandlungsmuster B. Und das hilft bei 80% der Betroffenen. Das ist sehr gut – das Nachsehen haben die anderen 20%. Wenn man den Menschen in der Behandlung aus den Augen verliert, dann wird es schwierig, eine für den Menschen passende Lösung zu finden. Wenn eine Diagnose also zu übermächtig wird, verlieren wir den zwischenmenschlichen Kontakt. Und der ist meiner Meinung nach vor allem das wichtigste im Prozess der Genesung.

Ich möchte am Schluss noch einmal ausdrücklich betonen, dass ich mitnichten gegen Diagnosen im allgemeinen Sinne bin. Ich arbeite mit Allgemein- und Fachärzten zusammen, um körperliche Ursachen auszuschließen. Gerade im Bereich somatoformer oder sexueller Störungen ist das unerlässlich, denn es ist wichtig, dass hinter den vermeintlich psychischen keine körperlichen Ursachen stecken – und natürlich umgekehrt. Hierfür ist die Diagnostik unerlässlich.

Auch ich erkläre meine Patienten nach der Befunderhebung über meine Verdachts(!)diagnose auf, denn ich bin mir der obengenannten Vorteile durchaus bewusst. Und im Anschluss entscheide ich mit dem Patienten gemeinsam, was für sie oder ihn der richtige Weg ist. Denn ich bin überzeugt, dass jeder einzelne seine Lösung am besten kennt.

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